Universal-Genie, überragender Erfinder, meisterhafter Maler… Alle Welt feierte den Renaissance-Künstler Leonardo da Vinci anlässlich seines 500. Todestages. Aber war er wirklich ein bedeutender Vorreiter der Ingenieurkunst? Ein Tagungsbesuch an der RWTH wirkt ernüchternd.
„Leonardo-Welten (gestern – heute – morgen)“: So lautete der Titel des Kolloquiums, das die RWTH zu Ehren Leonardo da Vincis im Super C abhielt. Einen Abend und einen ganzen Tag lang näherten sich Wissenschaftler verschiedener Disziplinen dem Phänomen Leonardo, seiner Arbeitsweise und seinen Erfindungen. Und dem, was dafür für Forscher von heute davon noch brauchbar ist.
Besonders spannend war es da, dass sich ein Technikhistoriker einen Teil des Nachlasses von Leonardo vorgenommen und so aufbereitet hat, dass man eigentlich erst jetzt so richtig nachvollziehen kann, was der viel Gefeierte sich gedacht hat. Der „Codex Madrid I“, entstanden 1493-95, ist Leonardos Hauptwerk zur Mechanik. Dietrich Lohrmann und sein Team haben es im Rahmen eines DFG-Projektes vier Jahre lang entziffert, durchdrungen, sortiert und schließlich kommentiert. Eine gewaltige Leistung, wenn man sich die vogelwild vollgekritzelten Seiten anschaut: Notizen in Spiegelschrift, Skizzen und Konstruktionszeichnungen, die sich oft noch nicht mal aufeinander beziehen.
Sturz eines Säulenheiligen oder Ein Genie wird gestrichen
Und was haben Lohrmann und seine Mitstreiter herausgefunden? Dass Leonardo gar nicht so genial war wie angenommen. Vielmehr hat er bereits vorhandene Maschinen studiert und Konstruktionszeichnungen aus Büchern kopiert – freilich mit dem Anspruch, sie zu verbessern. Der berühmte Panzer zum Beispiel stammt von einem Ingenieur namens Valturio. Leider verschlimmbessern Leonardos Zutaten das Kriegsgerät: Denn die von Hand betriebenen Kurbeln übersetzen die Bewegung so, dass sich die Räder gegenläufig drehen würden. Das bedeutet Stillstand oder Getriebeschaden. Überhaupt: Wie soll man es mit dem Antrieb von zwei Kurbeln schaffen, einen schweren Panzer samt Kanonen und Besatzung in Bewegung zu setzen? Übrigens nicht die einzigen Verbesserungen Leonardos, die eine Funktionsuntüchtigkeit zur Folge hätten.
Niemals hat er einen Prototyp gebaut
Niemals hat Leonardo einen Prototyp gebaut, seine Aufzeichnungen wurden nicht rezipiert. Der Codex Madrid wurde erst 1965 durch Zufall wiedergefunden. Dietrich Lohrmann fasste gegenüber dem Deutschlandfunk zusammen: „Das Genie Leonardo ist eine Erfindung des 19. Jahrhunderts, als rasanter technologischer Fortschritt sich vollzog und man Leonardo zu einer Art Urvater dieses prometheischen Denkens gemacht hat. Wenn man sich nun anschaut, was er wirklich hinterlassen hat, dann wird er zu einem ganz normalen, wenn auch überaus motivierten und sehr fleißigen Beobachter der Technik seiner Zeit, der das alles versteht und es verbessern will. Aber etwas grundlegend Neues ist schwer zu ermitteln. Alles findet sich schon in älteren Ingenieurhandschriften. Da wird plötzlich aus dem Genie ein eher normaler Mensch der Renaissance, der neben anderen bedeutenden Leuten seiner Zeit keine so außergewöhnliche Rolle spielt.“
Nur das meisterhafte Malen bleibt als geniales Vermächtnis des Leonardo da Vinci, auch wenn er nicht viele Bilder vollendet hat.
Leonardo da Vinci: Codex Madrid I
Kommentierte Edition
Dietrich Lohrmann (Hg.), Thomas Kreft (Hg.)
250,00 Euro
1.243 Seiten, mit 375 farb. Faksimiles u. 26 farb. Abb.,
4 Bde. im Schuber,
ISBN: 978-3-412-51206-4
Böhlau Verlag Köln
In deutscher Sprache
08.05.2019